top of page

#FutureLiteracy - Für eine bessere Katastrophe
Warum es wichtig ist, sich verschiedene (kommunale) Zukünfte vorzustellen

Im vergangenen Jahr erschien "I Want a Better Catastrophe - Navigating the Climate Crisis with Grief, Hope, and Gallows Humore" von Autor und Klimaaktivisten Andrew Boyd. Es soll eine Anleitung für “tragic optimists, can-do pessimists, and compassionate doomers” sein. Wie lebt man mit der unmöglichen Nachricht der unabwendbaren Klimakrise? Dabei greift der Autor unter anderem auf die fünf Phasen der Trauer von Elisabeth Kübler-Ross zurück, um mit der harten Realität klarzukommen. 

 

Denn es gibt kein Zurück, das 1,5-Grad-Ziel hängt am seidenen Faden, viele Regionen erleben bereits die Klimadystopie (siehe Hadsch '24 oder die extreme Hitzewelle in Indien) und wir müssen uns von alten Vorstellungen verabschieden, dass alles einmal wieder so werden wird, wie es mal war.  Alles andere wäre hoffnungslos naiv und grob fahrlässig. Boyd fragt also provokativ: Wie können wir die bereits reale Katastrophe schöner, also machbarer gestalten?

Die Frage nach der “schöneren Katastrophe” lässt sich meiner Meinung nach mit den Future Literacy-Methoden beantworten.

Dabei sticht Jane McGonigal heraus. Sie ist Game Entwicklerin und als Professorin am Institute for the Future (IFTF) tätig ist. McGonigal erlangte unter anderem dadurch Bekanntheit, als sie Jahre vor dem Ausbruch der tatsächlichen Pandemie ein Simulationsspiel entwickelte: Wie müsste sich die Welt vorbereiten, würde sie von einer Atemwegspandemie getroffen werden? Dieses Szenario wurde mit Teilnehmenden weltweit durchgeführt. So identifizierten die Teilnehmenden u.a. die typischen Superspreader-Events wie Hochzeiten, Familienfeste und Gottesdienste. 


Als dann Anfang 2020 die Welt von der realen Pandemie getroffen wurde, erhielt McGonigal zahlreiche Rückmeldungen von ehemaligen Teilnehmenden. Diese fühlten sich dank der Simulation viel besser auf die echten Bedrohungen vorbereitet, und hatten weniger Probleme mit notwendigen Maßnahmen wie Maske tragen oder soziale Isolation. Die Teilnahme an der Simulation hatte sie kognitive auf den Ernstfall vorbereitet. 

Die Zukunftsmethoden des IFTF sind keine Optimierungsstrategien für naives Denken. Future Literacy beschönigt nichts. Sie sbietet lediglich Werkzeuge, um sich auf verschiedene Zukünfte vorzubereiten. Nicht fatalistisch, sondern proaktiv, weil - shit happens. Bevor also transformiert wird, setzt man sich kollaborativ mit verschiedenen Zukünften auseinander. 

Das gilt nicht nur für die Klimakatastrophe sondern für alle Gesellschaftsbereiche in der Polykrise. Die Zukunft der Pflege. Die Zukunft der Ehe. Die Zukunft des Essens. Die Zukunft des Ehrenamts. Die Zukunft der Demokratie. Und natürlich die Zukunft der öffentlichen Verwaltung.

(Übrigens: Menschen mit ADHS besitzen eine besondere Fähigkeit, ihre Umgebung kontinuierlich zu scannen und selbst kleinste Veränderungen und Hinweise auf zukünftige Entwicklungen wahrzunehmen. Diese Eigenschaft, die im Alltag oft als belastend empfunden wird, erweist sich im Bereich der Zukunftsforschung als äußerst wertvoll. Die Sensibilität für subtile Signale, die aus dem neurotypischen Umfeld nicht selten als "Spinnereien" abgetan werden oder kein Gehör finden, findet nun in der Future Literacy Anerkennung und Anwendung. Menschen mit ADHS können ihre Fähigkeiten nutzen und beweisen, dass die von ihnen wahrgenommenen Veränderungen wichtige Hinweise auf kommende Veränderungen liefern.)

Man kann nun behaupten, mit Future Literacy werde die nächste Sau durchs Dorf gejagt. Das habe ich auch u.a. über Open Government gehört. Aber je mehr ich mich mit verschiedenen Methoden für das Erlernen von Zukunftskompetenzen auseinandersetze, desto mehr bin ich davon überzeugt, dass Future Literacy unbedingt zur Querschnittsdisziplin von Open Government werden sollte.

Einseitige Zukunftsszenarien sind schlichtweg unrealistisch, ignorieren statistische Fakten und spiegeln auch viel zu häufig privilegierte soziale Positionen oder eben einseitige Erfahrungen wider.  
Future Literacy ergänzt Open Government, indem es Entscheidungsträger:innen ermöglicht, verschiedene Zukunftsszenarien für einen Trend zu erarbeiten und somit fundierte, langfristigere Entscheidungen zu treffen. 

Man stelle sich mal vor: auf Regierungsebene, in den Bundes- und Landesministerien und in den politischen Gremien auf Kommunalebene werden Akteure und Entscheider:innen mit der Kompetenz ausgestattet, im Team verschiedene Zukunftszenarien zu erarbeiten und beim Eintreten dieser die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen und besonnen zu handeln.

Wie oft aber in letzter Zeit erleben wir hilfloses Hände-über-dem-Kopf zusammenschlagen und "Das hat doch niemand kommen sehen". Falsch! 

Den die Signale und Zeichen an der Wand sind schon lange da.  Sich allerdings damit auseinanderzusetzen ist unbequem, ja geradezu schmerzhaft. Andrew Boys singt davon ein Lied in "I want a better Catastrophe". 


Die Fähigkeit, sich verschiedene Zukünfte vorzustellen - idealerweise in einem interdisziplinären Setting -  und diese Vorstellungsfähigkeit als Ressource für heutige Entscheidungen zu nutzen, verhilft zu “psychologischer Flexibilität, realistischer Hoffnung und einem Gefühl von Kontrolle und echter Handlungsfähigkeit”. Das wiederum macht einen zu einem “Urgent Optimist”. Und diese werden dringend an allen Ecken und Enden gebraucht.

—----------------------------------------------------------------------------------------

Ein paar Grundlagen und Übungen

1. Erkenne die Signale!


Wer sich Zukunftskompetenzen aneignen möchte, der/die ist immer auf der Suche nach Signalen oder Hinweisen auf Veränderungen. Um Zukunftshinweise zu finden, entwickelt man eine neue Sichtweise auf die Welt. 
Und man folgt dem, was einem seltsam, komisch oder interessant erscheint. Anstatt sich von Menschen, Informationen oder Ideen angesprochen zu werden, die ins eigene Weltbild passen, wendet man sich zunehmend Dingen  und Sichtweisen zu, die die eigenen Annahme oder Überzeugung herausfordern. 

Eine erste niederschwellige Möglichkeit, die Signale zu einer möglichen Zukunftsgeschichte umzuwandeln, ist das Design eines Szenario. Man beschreibt eine Welt, in der dieses Signal nicht länger seltsam erscheint. Es ist weit verbreitet und völlig normal. Dieses Szenario wird mit anderen geteilt. Was würden sie in diesem neuen Szenario tun und fühlen?

2. Hundert Möglichkeiten, wie in der Zukunft alles anders sein kann
Man wählt ein Thema, z.B. Arbeit, Lebensmittel oder Bildung. 
Als Nächstes zählt man 100 Fakten zu diesem Thema auf, die heute wahr sind: 
→ Fakt 1: Bildung spielt eine zentrale Rolle im Leben der Menschen 
→ Fakt 2: Bildung ist wichtig für die persönliche Entwicklung

--> Fakt 3: Bildung ist wichtig für wirtschaftliches Wachstum
etc.

Im nächsten Schritt wählt man ein paar dieser scheinbar unumstößlichen Fakten und schreibt sie so um, so dass in 10 Jahren (das ist die Zeitspanne, in der die Futurist*innen am Institut for the Future denken) das Gegenteil wahr ist. 

Zu Fakt 1: Bildung spielt eine untergeordnete Rolle im Leben der Menschen
Zu Fakt 2: Bildung ist ein Hindernis für persönliches Wachstum
Zu Fakt 3: Bildung steht in keinem Zusammenhang mit wirtschaftlichem Wachstum

Je lächerlicher und unvorstellbarer, desto besser. 

Im nächsten Schritt sucht man nach Hinweisen für bereits stattfindende Veränderungen. Diese sind ein Signal dafür,  dass sich die Dinge bereits verändern. Im letzten Schritt wählt man ein paar dieser umgedrehten Fakten.  Wie würde diese neue Realität funktionieren?  Das ist der Versuch, einer anfangs lächerliche oder unglaubwürdige Idee in einen neuen, glaubwürdigeren  Anstrich zu geben. Es entstehen neue Zukünfte, die möglicherweise bereits in der Umsetzung sind, aber von realen Ereignissen in den Schatten gestellt werden.

Und hier kommt Stump the Futurist zum Einsatz. 


3. Stomp the Futurist (“Mach’ die Futuristin alle”)
Die Liste mit den scheinbar unveränderlichen Tatsachen nehmen sich Futurist:innen mit Leidenschaft vor. Sie begeben sich auf die Suche nach Signalen, die auf eine Trendwende hinweist. So ist Jane Mcgonical beispielsweise der Aussage von Studierenden nachgegangen, ein Kind könne auch in Zukunft nur von EINEM Mann und EINER Frau gezeugt werden. Bei ihrer stieß sie auf einen Bericht über eine neue experimentelle Fruchtbarkeitsbehandlung namens "Pronuklearer Transfer". Dabei wird das genetische Material von ZWEI Frauen und EINEM Mann kombiniert, um ein Baby zu zeugen. Diese Methode wird heute vor allem angewandt, um die Weitergabe von Erbkrankheiten durch die Eltern zu verhindern. Sie ist allerdings nur in wenigen Ländern legal. 
Aber wir sehen: Stomp the Futurist hilft dabei, Annahmen in Frage zu stellen und kognitiven Fähigkeiten für neue Zukünfte zu erweitern. 

—----------------------------------------------------------------------------------------

Ressourcen:
Jane McGongical - Bereit für die Zukunft: Das Unvorstellbare denken und kommende Krisen besser meistern


Auf Coursera bietet das Institute for the Future u.a. Microdegrees zu Future Thinking an.

Die Plattform “Urgent Optimist”  des Institute for the Future ist eine Community von Futurist*innen weltweit.  Sie ist kostenpflichtig und bietet verschiedene Trainings und Aktionen für das Erlernen von Zukunftskompetenzen an. 

bottom of page